Leistungswelt



Leistung - das habe ich als 16-Jähriger von der schönen Physiklehrerin gelernt - ist Kraft mal Weg durch Zeit: K x s : t.

Das alles ist messbar: der Kraftaufwand, die Wegstrecke und die Zeit. 

Messbarkeit hat uns geprägt und ist für viele das Einzige, was zählt: Der Umsatz, die Menge, der Gewinn... . Schade eigentlich, denn das Nichtmessbare ist ebenfalls Realität und eigentlich viel eindrücklicher und oft entscheidender: Die Liebe, das Wohlfühlen, der Frieden, das Schöne aber auch die Einsamkeit, die Trauer...

Dazu eine Geschichte: In einem heissn Sommer, vor vielen Jahren, unternahmen wir eine Wanderung in den Grand Canyon. Vom South-Rim über den "Indian Garden" ganz hinunter bis zum Colorado River und zur Phantom Ranch.

Gerne habe ich dann vielen Leuten erzählt, dass ich im Sommer im Grand Canyon unten war.
"Wie lang hast Du gebraucht?" fragte mich jeder, wirklich jeder, ganz spontan. "Zwei Tage", antwortete ich, "wir haben unten übernachtet." "Ah toll, ich kenne einen, der hat’s in einem Tag geschafft, hinunter und wieder hinauf" oder "ich habe nur sechs Stunden gebraucht", lauteten die stereotypen Antworten.
 
Keiner hat gefragt: "Wie war’s?", "Was habt ihr erlebt?"

Dabei war das Erlebnis viel eindrücklicher als auf die Stoppuhr zu schauen. Wir sind Menschen begegnet, haben mit ihnen geplaudert, sahen Tiere, hörten das Rauschen des Windes und des Colorado Rivers, bewunderten die verschiedenen Farben der Felsen und des Sandes, erlebten den Vollmond in der Phantom Ranch, erhaschten die Scheinwerferlichter der kurvenden Autos hochoben am Rim oben, fürchteten in der Nacht auch ein wenig die Klapperschlangen und die Skorpione, schwitzten, genossen das kühle Nass eines Bächleins. Und da gäbe es noch viel zu erzählen.

Das Messbare war nebensächlich: Wie weit, was für ein Höhenunterschied, wie heiss es war, wie viel Zeit wir brauchten, wie viel Wasser wir tranken. Das Erlebnis steht - auch heute noch - im Mittelpunkt.

Es gibt Messbares welches Sicherheit bringt. Es gibt die nachvollziehbare Logik von Ursache und Wirkung, die ebenfalls Sicherheit bringt. Realität ist aber auch das Phänomen, das erlebt wird, nicht messbar und nicht begründbar und trotzdem eine Tatsache.

"Ich kann heute nicht zur Arbeit erscheinen weil ich krank bin und 39° Fieber habe."
 Zum Glück habe ich Fieber, denn dieses legitimiert mich der Arbeit fern zu bleiben.

Lernen, die Welt auch aus der phänomenologischen Sich wahr- und ernst zu nehmen, wäre ein echter Fortschritt. Wachstum besteht nicht nur aus immer mehr, in immer kürzerer Zeit, sondern auch im "Gleichviel" in einer besseren Qualität.

Die phänomenologische Sicht wird der Realität gerechter bedingt jedoch, dass wir bereit sind Unsicherheit zuzulassen und zu vertrauen.

© Jean-Pierre Crittin


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