Ritual


Heute fand ich im Briefkasten einen Briefumschlag auf dem sich links oben eine Pfadfinderlilie auf grünem und ein dreiblättriges Kleeblatt auf blauem Hintergrund befand. Schweizerische PfadfinderInnenbund hiess der Absender; nichts Weltbewegendes.

Doch die «Pfadililie» - in der Schweiz werden männliche Pfadfinder «Pfadi» genannt - löste in mir Erinnerungen aus, an Kolleginnen und Kollegen mit denen ich Erlebnisse teilen durfte und Dankbarkeit für diese schöne, lehrreiche Zeit.

Weiter kamen mir Geschichten in den Sinn, ganze - manchmal auch nicht ganz stubenreine - Liedtexte und unvergessliche Rituale, die mir ein Schmunzeln entlockten, besonders die eine unglaubliche Zeremonie:

In jedem Winterlager der Pfadis unseres Zuges, zwischen dem 26. Dezember und Anfang Januar, versammelten wir uns jeden Morgen, vor dem Frühstück, in Reih und Glied  beim Fahnenmast. Einer von uns, der sich am Vortag besonders ausgezeichnet hatte, durfte die Fahne hissen, während ein anderer, ehrenvoller Pfadi das Pfadigesetz herunterleiern musste. Wir alle standen stramm, emotional ergriffen mit erhobenen Pfadischwurfingern – heute würde man dem «Mudra» sagen. Dann sangen wir gemeinsam: «Fest auf Felsengrunde, bau'n wir auf zum Bunde, jedes Land an Gottes Hand, möchte Brücken bauen… .

Anschliessend nahte der Höhepunkt des Morgenrituals: Der Zugführer (hat nichts mit Eisenbahn zu tun) kramte aus seiner Hosentasche einen tiefen, grossen Suppenlöffel hervor, zauberte aus dem Schneeloch eine braune Flasche. Feierlich goss er die dickliche Flüssigkeit aus der Flasche in den grossen, tiefen Suppenlöffel, führte diesen mit ernstem Ausdruck in seinen Mund. Anschliessend begab er sich zum ersten, grössten Pfadi, schaute ihm tief in die Augen und goss würdevoll Flüssigkeit in den Suppenlöffel. Der Oberpfadi öffnete seinen Mund, worauf der Zuführer ihm den Löffel hineinschob, so, dass der Junge den Inhalt des Suppenlöffels schlucken konnte. Langsam arbeitete sich der Zugführer anschliessend durch seine schweigende Truppe. Jeder bekam seinen Schluck – aus demselben Löffel selbstverständlich, der auch nie abgewischt oder gereinigt wurde. Das war normal.

Die harten Pfadis, vor allem die älteren, das Ritual von früheren Winterlagern her kenned, schluckten mit stoischer Miene den Saft. Die weniger abgehärteten Warmduscher und Weicheier konnten es sich nicht verkneifen, das Gesicht zu verziehen, «wääk» zu flüstern oder fast unhörbare Kotzgeräusche von sich zu geben.

Der Inhalt der Flasche? Reiner Lebertran, wertvolle Omega-3-Fettsäure in Reinkultur, grad so, wie er aus dem Walfisch gekommen war. 

Ich selber als Zugführer, freute ich mich jeden Morgen auf das Ritual. Ich konnte zeigen, was für ein harter Bursche ich bin, mitkriegen, wie sich meine Buzzlis überwinden mussten und vor allem zu einem unglaublichen Gemeinschaftsgefühl beitragen.

Und das Beste: Nie ist einer unserer Pfadis im Winterlager krank geworden! Der Suppenlöffel war über Jahre immer derselbe, grosse, tiefe, ungewaschene.

Nun muss ich richtig lachen, wenn ich daran denke, was heute im Anschluss an so ein Winterlager geschehen würde… Unsere Eltern fanden das ok.

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